Bad Nauheimer Gespräch mit dem Ökotrophologen Prof. Dr. med. Jürgen Stein
Als Omnivore („Allesfresser“) haben wir Menschen die Qual der Wahl. Doch die Vielfalt der Komponenten, aus denen sich unsere Ernährung – theoretisch – zusammensetzen kann, scheint angesichts der stets gut gefüllten Supermarktregale und nahezu täglich in den Medien verbreiteten „neuen“ Ernährungserkenntnisse eine immer größere Herausforderung zu sein. Zur Frage „Was soll ich essen?“ lieferte Prof. Dr. med. Dr. oec. troph. Jürgen Stein mit seinem Vortrag „Gesunde Ernährung. Fakten – Mythen – Irrwege“ erhellende Erkenntnisse.
„Die Leibgerichte der Deutschen sind Braten, Schnitzel und Gulasch“, informierte Initiatorin Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Diedrich die Besucherinnen und Besucher des Bad Nauheimer Gesprächs in der Landeszahnärztekammer Hessen. „Hinzu kommt, dass Kochen und gemeinsame Mahlzeiten inzwischen nicht mehr die Regel sind: Gerade jüngere Menschen setzen auf Imbisse und Lieferdienste,“ führte Hasselblatt-Diedrich weiter aus.
Risiko Körpermitte
Der Internist, Gastroenterologe und Ernährungsmediziner Prof. Jürgen Stein blickte zunächst auf die physiologischen Folgen einer ungesunden Lebensweise: Die Gesundheitsgefährdung lauert rund um die Gürtellinie, genauer gesagt im viszeralen Fettgewebe, das eine besonders hohe Hormonaktivität hat, die den Fett- und Zuckerstoffwechsel verändert. In Kombination mit anderen Risikofaktoren wie Bluthochdruck führt es zum sogenannten Metabolischen Syndrom, das mit der Entstehung von Arteriosklerose und dem Diabetes Typ 2 im Zusammenhang steht. Rund 27 % der Männer, 21 % der Frauen und bereits 5 bis 10 % der Kinder in Deutschland seien davon betroffen, informierte Stein.
Zu viel …
Großen Einfluss auf die skizzierte Entwicklung hat der Fleischverzehr: Maximal 300 bis 600 Gramm Fleisch und Wurst pro Woche empfiehlt die DGE. Hochgerechnet auf ein Jahr sind das maximal 16 bis 31 Kilogramm. Die Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zeichnen ein anderes Bild: Im Jahr 2016 lag der Fleischkonsum in Deutschland bei durchschnittlich 87,7 Kilogramm pro Kopf. Maximal 30 % der täglichen Nahrungsenergie sollten laut DGE aus Fett stammen. Dabei ist ein günstiges Verhältnis unterschiedlicher Fettsäuren wichtig: 10 % gesättigte Fettsäuren, 10–13 % einfach ungesättigte Fettsäuren und 7–10 % mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Viele Nahrungsfette enthalten ungesunde Trans-Fettsäuren; als günstige Nahrungsfette hat die DGE demgegenüber Rapsöl, Walnussöl, Diät-Margarine und Pflanzencreme identifiziert.
Warum Diäten scheitern
Beim Thema Diäten brachte der Referent ein Dilemma auf den Punkt: „Allein bei einer Recherche im Internet können Sie rund 500 verschiedene Diäten zu Tage fördern.“ Egal, auf welche Diät die Wahl fällt: Der Erfolg hängt von der persönlichen Motivation ab. „Sehr oft wollen die Menschen aus den falschen Gründen abnehmen“, stellte Stein fest. Bei der Gewichtsreduktion gehe es nicht um die Kleidergröße – das sei allenfalls ein erfreulicher Nebeneffekt –, sondern in erster Linie um die Gesundheit.
So führten „Crash-Diäten“ zwar initial zu einem schnellen Gewichtsverlust – das Fettgewebe werde dabei aber nicht erreicht. „Stattdessen baut der Hungerstoffwechsel Muskeln und damit stoffwechselaktive Zellen ab. Nach der Rückkehr zur gewohnten Lebensweise steigt der Körperfettanteil deshalb auf ein höheres Level als vor der Diät“, erläuterte Prof. Stein den typischen „Jo-Jo-Effekt“. „Fasten ist nur dann zu befürworten, wenn es der Einstieg in eine langfristige Lebensstiländerung ist.“
Stichwort Nachhaltigkeit: „Die entscheidendste Komponente einer Diät ist eine Verhaltensänderung – und die dauert bis zu einem Jahr“, erfuhren die Zuhörer. Und: „Man sollte sich realistische Ziele setzen. Dazu gehören auch Zielvorgaben für körperliche Aktivität.“ Der tägliche Energieverbrauch und der Grundumsatz lassen sich nur durch mehr Bewegung und den Aufbau von Muskelmasse steigern.
Ernährungsmythen entlarvt
Stein hatte sich für den zweiten Teil seines Vortrags vorgenommen, zwölf der gängigsten Alltagsmythen um richtige Ernährung zu entkräften. Hier eine Auswahl:
- Margarine sei für die Herzgesundheit besser als Butter. „Bei den meisten Menschen ist der Cholesterinwert unabhängig von der Nahrungsaufnahme. Deshalb hat die Menge des mit der Nahrung aufgenommenen Cholesterins keinen Einfluss auf den Cholesterinspiegel im Körper. Butter und Margarine enthalten außerdem ungefähr die gleiche Menge Fett“, entkräftete der Referent diese Annahme.
- Smoothies seien genauso gesund wie Obst und Gemüse. „Smoothies sind zwar nicht gesundheitsschädlich, aber kein Ersatz für Obst und Gemüse“, mahnte er. „Smoothies enthalten weniger Nährstoffe, Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe als Obst und Gemüse und haben bei weniger Volumen und gleichzeitig höherer Energiedichte eine geringere Sättigungswirkung haben.“
- „Superfoods“ haben seit einigen Jahren Hochkonjunktur, klingen exotisch – Gojibeeren, Matchapulver, Chia-Samen usw. – und kommen oft aus fernen Ländern. „Superfoods schaden zwar nicht der Gesundheit, häufig aber dem Geldbeutel“, konstatierte Stein. Er empfahl stattdessen regionale „Superfoods“ wie Brokkoli, Rote Bete oder Leinsamen.
- Spätabends essen macht angeblich dick. Generell ist nicht entscheidend, wann gegessen wird, sondern was: „Für die Gewichtsregulierung verantwortlich ist die über den ganzen Tag verteilt aufgenommene bzw. verbrauchte Energie“, erinnerte Stein.
- Zwischenmahlzeiten seien eine gute Strategie, um insgesamt weniger zu essen. Die Ergebnisse einer Untersuchung mit zwei Gruppen zeigen dazu: Teilnehmer, die am Nachmittag eine Zwischenmahlzeit konsumierten, nahmen zum Mittagessen zwar etwas weniger Kalorien auf als Teilnehmer ohne Zwischenmahlzeit; zum Abendessen aßen sie aber genauso viel. Die Tagesbilanz der Teilnehmer mit Zwischenmahlzeit zeigte somit insgesamt eine höhere Kalorienaufnahme.
- Kohlenhydrate machten dick. „Jein“ – Freunde von Reis-, Nudel- und Kartoffelgerichten können teilweise aufatmen: Denn: „Die Masse füllt den Magen, nicht die Kalorien.“ Eingängiges Rechenbeispiel: 300 Gramm Reis machen genauso satt wie 300 Gramm Nudeln. Nur hat man mit den Nudeln mehr Kalorien aufgenommen.
„Glauben – Essen – Trinken“
Einige gängige, sogenannte alternative Ernährungstrends könne man mit dem Etikett „Glauben – Essen – Trinken“ versehen, bemerkte der Ernährungsmediziner. Dazu gehöre beispielsweise die sogenannte Paleo- oder Steinzeitdiät, die sich an der vermuteten Ernährung der Altsteinzeit-Menschen orientiert. Bei dieser Ernährungsform wird unter anderem der Verzehr unbegrenzter Mengen hochglykämischer Anteile empfohlen. „Die Paleo-Ernährung weist viele Widersprüche auf, denn eigentlich weiß man heute gar nicht so genau, wie sich die Menschen vor 20.000 Jahren ernährt haben“, schränkte Prof. Stein ein.
Bei der Low-Carb- bzw. Low-Fat-Ernährung halten sich die Befürworter und Gegner die Waage. Positiv sei, dass beide Ernährungsformen auf Langfristigkeit angelegt sind, Fragen zur Ausgewogenheit bleiben jedoch offen. Jürgen Stein resümierte: „Untersuchungen haben gezeigt, dass die beiden Ernährungsformen nach zwölf Monaten zu vergleichbaren Gewichtsverlusten führen.“
Vegetarisch, vegan oder Intervall?
Positive Gesundheitswirkungen aus ernährungsphysiologischer Sicht sind für Vegetarismus bzw. Veganismus nachgewiesen: Vegetarier haben zum Beispiel seltener Übergewicht und Bluthochdruck und eine gesteigerte Aufnahme von komplexen Kohlenhydraten, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen. Veganer haben zudem ein geringeres Risiko für Arteriosklerose und Krebs. Veganismus weist dagegen auch Risiken auf: Insbesondere auf die ausreichende Eisen- und Vitamin B 12-Zufuhr sollte geachtet werden. Die DGE rät bei Säuglingen, Kleinkindern, Kindern, Schwangeren und Stillenden von einer veganen Ernährung ab.
Beim Intervallfasten hat das Ergebnis eines Versuchs mit Mäusen für einen regelrechten Hype gesorgt. Die positiven Effekte wurden in einer Studie auch für den Menschen bestätigt: Die Menge des viszeralen Bauchfetts reduzierte sich deutlich; gesenkt wurde auch die Menge an Eiweißen, die in Verdacht stehen, den Alterungsprozess zu beschleunigen, und der Cholesterinspiegel. Dagegen stieg der Gehalt von Ketonen, die eine stimmungsaufhellende und entzündungshemmende Wirkung haben. Möglich sind dabei unterschiedliche Intervalle: Täglich 16 Stunden fasten, zwei Tage in der Woche fasten oder alle zwei Tage fasten. „Wichtig ist nur: Man muss es dauerhaft tun“, erinnerte Prof. Stein nochmals an das Credo der Langfristigkeit.
Überraschende Erkenntnis
Eine zentrale Botschaft für das Leben hatte Prof. Jürgen Stein noch abschließend für sein interessiertes Auditorium: „Es ist einfach, sich gesund zu ernähren!“ Eine gute Leitplanke dafür sind die „10 Regeln“ der DGE1. Damit kam die für einige Zuhörer wohl überraschendste Erkenntnis zum Schluss:
Die DGE-Empfehlung „5 am Tag“ bedeutet nicht etwa fünf Mahlzeiten am Tag, sondern fünf verschiedene Arten Gemüse und Obst – und diese lassen sich abwechslungsreich auf zwei bis drei Mahlzeiten pro Tag verteilen.
Anna Cathrina Wilker, Kassenzahnärztliche Vereinigung Hessen
Vor allem mehr Bewegung!
Der Referent Prof. Stein betont die „10 Regeln“ der DGE1, sagt selber: „Verantwortlich ist die über den Tag verteilt aufgenommene bzw. verbrauchte Energie.“ Konsequenz: Sitze weniger und bewege Dich mehr! Mobilität ist Lebensqualität – und dann kannst Du auch besser essen! Das gelingt am besten durch eine langfristige Lebensumstellung, indem regelmäßige Bewegung in den Alltag integriert wird. Dr. med. Jürgen Glatzel