Herausforderung und Chance

Dr. rer. med. Psych. Bianca Senf, Dr. phil. Jens Fettel, Dr. med. Christiane Gog, M.Sc., PD Dr. med. Monika Keller, Paula Maiwurm

Einleitung

Herr M. lag mit der Diagnose einer Leukämie auf der onkologischen Station eines Krankenhauses. Er war gerade 72 Jahre alt geworden und seit 50 Jahren glücklich verheiratet. Die Leukämie sei gut behandelbar, erfuhr der Patient vom behandelnden Onkologen. Die gesunde und sehr rüstige Ehefrau zeigte sich zuversichtlich und unterstützend. Der Patient selbst wirkte freundlich, zurückhaltend und für das Personal eher auffällig „unauffällig“ und sehr ruhig. Nach dem letzten Rundgang der Nachtschwester suizidierte sich Herr M., indem er sich die Pulsadern aufschnitt. Er wurde von einem Mitpatienten tot aufgefunden.

Suizidalität ist in unserer Gesellschaft bis heute ein Tabu-Thema. Mit jährlich über 9.000 Suizidtoten in Deutschland ist der Tod durch Suizid inzwischen höher als die Zahl der Todesopfer durch Verkehrsunfälle, Drogen und HIV zusammen [1]. Konkret bedeutet das: Alle 56 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben. Männer sind dreimal so häufig betroffen wie Frauen. Dass Krebspatienten zu einer Risikogruppe zählen, ist bei der medialen Fokussierung auf den „Kampf“ gegen Krebs vielen Laien, aber auch Behandlern nicht bewusst. Dennoch, die Zahl onkologischer Patienten, die sich suizidieren, ist im Vergleich zur nicht erkrankten Bevölkerung signifikant erhöht. Dabei liegt die Dunkelziffer, wie bei Suiziden allgemein, vermutlich deutlich über den amtlichen Zahlen.

Eine onkologische Erkrankung kann in allen Phasen der Erkrankung und Behandlung in einer suizidalen Krise münden und so können behandelnde Ärzte während aller Behandlungsphasen, auch nach Abschluss der akuten Behandlung, mit vagen bis konkreten Suizidgedanken, Suizidversuchen, Suizidhandlungen und dem Wunsch nach Sterbehilfe konfrontiert werden. Welche Faktoren beeinflussen das Suizidrisiko bei Krebspatienten? Welche Alarmzeichen senden Suizidgefährdete aus? Wie sehen sich onkologisch tätige Ärzte auf diese Herausforderung vorbereitet und welche Wünsche an spezifischen Fortbildungen werden geäußert?

Der folgende Beitrag bietet Antworten auf diese Fragen und referiert Erkenntnisse aus einer großen Online-Befragung, an der auch 87 Ärztinnen und Ärzte teilnahmen. Die referierten Ergebnisse beziehen sich auf die Unterstichprobe der Ärzte. Sie geben einen Hinweis darauf, wie häufig onkologisch tätige Ärzte mit dem Thema Suizidalität in Berührung kommen und wie sie ihr Wissen diesbezüglich einschätzen, wie belastet sie sich fühlen und welcher Fortbildungsbedarf besteht.

Die Krebsdiagnose als kritisches Lebensereignis

Die Diagnose Krebs trifft Betroffene oft überraschend und ist massiv lebensverändernd und häufig sehr herausfordernd. „Wozu das alles noch? Mein Alltag besteht nur noch aus Einschränkungen und Schmerzen! Ich kann einfach nicht mehr! Das macht doch alles keinen Sinn!“

Diese und ähnliche Patientenaussagen sind häufig. Sie verdeutlichen, dass eine Krebserkrankung viele Patienten, aber auch ihr Umfeld in tiefe Verzweiflung stürzen kann. Dabei kann ein Leiden zu jeder Zeit im Verlauf der Behandlung, aber auch noch Jahre danach durch die Erkrankung hervorgerufen werden und in einer suizidalen Krise münden [2].

Eine kürzlich veröffentlichte retrospektive Studie mit 8.65 Millionen Krebspatienten in den USA dokumentiert, dass Krebspatienten viermal so häufig an einem Suizid sterben wie vergleichbare Personen in der Allgemeinbevölkerung [3]. Andere Studien kommen zu ähnlichen Zahlen [4]. Henson et al., die Daten von 1995–2017 auswerteten, konnten zeigen, dass sich von 4.722.099 Krebspatienten 2.491 suizidierten [5]. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung entspricht dies einem 20 % erhöhten Risiko. Vergleichbare Studien kommen vor allem aus den USA [2, 4, 6], Schweden [7] und Österreich [8] und liegen für Deutschland bislang nicht vor.

Die 33 in der S3-Leitlinie „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten“ zitierten Studien zum Thema Suizidalität zeigen, dass durchschnittlich 14.7 % der onkologischen Patienten Suizidgedanken hegten (SD=10.2), während die Häufigkeit von Suizidversuchen mit 5.6 % (SD=9.7) angegeben wird [9]. Weitere Studien belegen die Häufigkeit suizidaler Gedanken bei onkologischen Patienten [10, 11].

Relevanz für Behandler

Suizide im onkologischen Alltag sind nach Annahme vieler Kollegen eher eine Ausnahme – obwohl verschiedene Arbeiten zeigen, dass Patienten psychosoziale Themen primär mit ihrem Arzt besprechen und sich diejenigen, die einen Suizidversuch unternehmen oder sich suizidieren, vorher an einen Arzt wandten [12, 13]. Suizidalität wird dennoch in der Onkologie oftmals nicht als ein relevantes Problem eingestuft. Die Thematik erscheint vielen als paradox. Gleichzeitig fühlen sich viele Behandler öfter überfordert, wenn sie sich mit einem suizidalen Patienten konfrontiert sehen, rechtzeitig und effektiv Hilfe zu leisten.

Die Häufigkeit der Konfrontation mit suizidalen Patienten lässt sich bisher nur aus den Daten zu vollendeten Suiziden erschließen. Hinweise darauf, wie häufig Ärzte tatsächlich mit der Thematik in Berührung kommen, geben die Ergebnisse der hier vorgestellten Online-Befragung, welche Mitarbeiter der Psychoonkologie der Uniklinik Frankfurt durchführten: Referiert werden an dieser Stelle Ergebnisse der Unterstichprobe von 87 teilnehmenden onkologisch tätigen Ärzten.

Hier geben 61 % der Kollegen an, jährlich ein- bis dreimal mit Patienten konfrontiert zu werden, die Suizidgedanken äußern oder bei denen suizidale Absichten naheliegen. Weitere 16 % der Ärzte berichten, dass ihnen pro Jahr mehr als dreimal suizidale Patienten begegnen. Hingegen mussten sich bisher 23 % der Ärzte noch nie mit dieser psychischen Notlage auseinandersetzen. Knapp zwei Drittel der Ärzte (63 %) berichten, von einem tatsächlich erfolgten Suizid eines ihrer Patienten erfahren zu haben. Die Ergebnisse stützen die Hypothese, dass die Thematik Suizidalität für onkologische Behandler relevant ist. Ärzte nehmen, zusätzlich zu ihrer medizinischen Fachkompetenz, eine Schlüsselrolle im Erkennen, Benennen und Beurteilen der psychischen Notlagen ein [12].

Infobox 1: Impulse für ein Gespräch

Fragen, die innerhalb eines empathischen, offenen und wertfreien Gesprächs gestellt werden können, um ein Suizidrisiko abschätzen zu können:

  • Sie scheinen mir sehr bedrückt. Wie sehr fühlen Sie sich denn die letzten Tage auf einer Skala von 0 bis 10 seelisch belastet? Die Zahl 10 steht wie bei einer Schmerzskala für den höchsten Grad der Belastung.
  • Wie denken Sie über Ihre Situation, halten Sie sie für aussichts- und hoffnungslos?
  • Können Sie denn zwischendrin auch an etwas Schönes, etwas für Sie Positives denken oder fällt es Ihnen schwer, an etwas anderes als Ihre Situation und Probleme zu denken?
  • Wie ist es momentan mit Ihren Kontakten zu Verwandten und Freunden, ist das sehr viel weniger geworden?
  • Haben Sie noch Interesse daran, was in Ihrem Beruf und in Ihrer Umgebung vorgeht? Üben Sie noch Ihre Hobbys aus oder haben Sie dafür gar keine Energie mehr?
  • Haben Sie jemanden, mit dem Sie offen darüber sprechen können, wie es Ihnen tief in Ihrem Inneren geht?
  • Wohnen Sie zusammen mit Familienangehörigen oder Bekannten?
  • Ich habe im Laufe meiner Berufstätigkeit Menschen in Ihrer Situation kennen gelernt, die so verzweifelt waren, dass sie daran dachten, sich das Leben nehmen zu wollen. Haben Sie in jüngster Zeit auch manchmal daran gedacht, sich das Leben nehmen zu wollen?
  • Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Ich meine, haben sich diese Gedanken Ihnen einfach aufgedrängt, ohne dass Sie das wollten?
  • Wie häufig kommen denn diese Gedanken?
  • Haben Sie denn schon mal konkret darüber nachgedacht, wie Sie sich das Leben nehmen würden?
  • Haben Sie denn schon genau geplant und Vorbereitungen getroffen?

Erkennen und Benennen

Ein aufmerksamer Umgang der behandelnden Ärzte mit Patienten erleichtert das Erkennen der oft hohen Belastung von onkologischen Patienten und bietet den Ansatz für eine erfolgreiche Suizidprävention. Dabei sind neben einer sorgsamen Anamnese die Kenntnis der Risikofaktoren, speziell für onkologische Patienten, bedeutsam. Sie können erste Hinweise auf suizidale Krisen geben und bereits im Vorfeld von behandelnden Ärzten berücksichtigt werden.

Risikofaktoren

Psychische Komorbiditäten: Psychische Störungen gelten mit 90 % als einer der zentralen Risikofaktoren für Suizidalität [14]. Für die Betreuung onkologischer Patienten ist dies relevant: Eine Vielzahl von internationalen und nationalen Studien belegt, dass onkologische Patienten im Verlauf der Erkrankung psychische Belastungen bis hin zu einer manifesten psychischen Störung aufweisen [15–16]. Dabei sind Depression und Angststörungen die am häufigsten auftretenden psychischen Komorbiditäten onkologischer Patienten [17–18].

Vor dem Hintergrund, dass das Suizidrisiko bei depressiv Erkrankten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung etwa 30-mal höher ist [14], ist eine Depression bei onkologischen Patienten als Indikator für Suizidalität bedeutsam. Depressivität kann bei Krebspatienten die Wahrscheinlichkeit erhöhen, irgendwann im Verlauf der Erkrankung suizidale Gedanken zu entwickeln und suizidale Absichten zu hegen.

Etwa 18 % der Patienten leiden Studien zufolge an einer komorbiden Angststörung [19]. Spezifische krankheitsbezogene Ängste sind jedoch weitaus häufiger und beinhalten Ängste vor der Behandlung und deren Folgen, Progredienzängste, Ängste vor Schmerzen und Qualen, vor Einsamkeit oder vor dem Sterben. Ängste können bei Patienten emotionale Belastungen hervorrufen, die zu lebensmüden Gedanken führen können.

Demografische Faktoren

Männliches Geschlecht ist ebenfalls ein bedeutsamer Risikofaktor. In der Studie von Zaorsky et al. wurden 83 % der Suizide von Männern ausgeführt [3]. Ober- aigner et al. zeigten, dass von 144 Suiziden bei Krebspatienten in Tirol 82.6 % von Männern begangen wurden [8]. Die Standardisierte Mortalitätsrate (SMR) für Männer liegt in dieser Stichprobe bei 2.0, während die für Frauen 1.4 beträgt.

Auch das fortgeschrittene Alter ist ein Risikofaktor. Patienten im Alter von über 50 Jahren sollten besondere Aufmerksamkeit erfahren [3, 20].

Ob Menschen alleine leben oder sozial eingebunden sind, spielt ebenfalls eine Rolle. So haben beispielsweise verheiratete Patienten ein weitaus geringeres Suizidrisiko [21, 22].

Tumorentität

Die Tumorentität ist ein entscheidender Faktor für die Einschätzung des Suizidrisikos. Das höchste Suizidrisiko besteht bei Patienten mit Lungenkarzinom. Hier ist zu vermuten, dass das häufig rasche Fortschreiten der Erkrankung, welches praktisch immer mit qualvoller Luftnot einhergeht, hierfür verantwortlich ist. Einer US-Studie [22] zufolge beträgt die SMR von Lungenkrebspatienten 4.17, gefolgt von Patienten mit kolorekteralem Karzinom (SMR=1.41), Mamma- (SMR=1.40) und Prostatakarzinom (SMR=1.18). Auch andere Studien belegen ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebspatienten und Patienten mit Pankreaskarzinom [6, 23]. Pankreaskarzinompatienten wissen häufig von Beginn der Diagnosestellung an, dass sie eine sehr schlechte Prognose haben. Die klinische Praxis zeigt hier, dass fehlende Hoffnung, die Krankheit zu überleben, große Verzweiflung und Demoralisationsgefühle auslösen kann. Zugleich weisen verschiedene Autoren auf ein erhöhtes Risiko für Prostatapatienten hin [21, 24, 25].

Prognose

Daten aus England zufolge ist das Suizidrisiko bei prognostisch ungünstigen Tumoren wie beispielsweise Pankreaskarzinom, Tumoren der Lunge/ Pleura, Ösophagus oder des Magens besonders hoch [5]. Auch Fang et al. fanden erhöhte Suizidraten insbesondere bei Tumoren mit schlechter Prognose [20].

Zeitlicher Verlauf

Betrachtet man den zeitlichen Verlauf des Suizidrisikos nach einer Krebsdiagnose, so zeigt sich, dass in der ersten Woche nach Diagnose das Suizidrisiko 12.6-fach höher war als in der Allgemeinbevölkerung, und auch nach einem Jahr war das Suizidrisiko noch 3.1-fach höher [20].

Dass eine Krebserkrankung im Kindesalter auch nach Jahren noch mit Suizidalität und lebensmüden Gedanken einhergehen kann, zeigt eine Langzeitstudie [26]. So wiesen 12.8 % der Betroffenen suizidale Symptome und immerhin 8.4 % lebensmüde Gedanken auf. Dies ist möglicherweise auf die gesundheitlichen Einschränkungen, die die Erkrankung und Behandlung mit sich gebracht haben, zurückzuführen. Darüber hinaus zeigt die klinische Praxis, dass Patienten besonders auch nach Abschluss der Therapie suizidale Gedanken haben können.

So strapaziös für viele Patienten die Behandlung auch sein mag, sie bietet auch einen sicheren Rahmen. Viele Patienten formulieren es so oder ähnlich: „Es wird etwas gemacht, dass mir hilft, die Krankheit zu überleben“. In diesem Kontext sind Ratschläge wie „leben Sie einfach wie bisher, essen sie gesund, treiben Sie Sport und genießen das Leben“ eher sehr verunsichernd und können vulnerable Patienten in Krisen stürzen. Hinzu kommt, dass viele Patienten erst mit Beendigung der Akuttherapie beginnen (können), sich mit den psychosozialen Folgeerscheinungen auseinanderzusetzen. Auch werden Beeinträchtigungen durch die Erkrankung und Behandlung nun sichtbarer und spürbarer. „Wie soll es nun weitergehen?“, „Hört das nochmal auf?“, „Wird das überhaupt nochmal besser?“ Diese Fragen stellen sich vielen Patienten nach ihrer überstandenen Therapie und drücken oftmals damit aus, wie verzweifelt und überfordert sie sich fühlen. Möglicherweise erklärt dies den erneuten Peak des Suizidrisikos nach neun Monaten bei Pankreas- und Brustkrebs, der in der Langzeitstudie von Saad et al. deutlich wird [6].

Arzt-Patienten-Beziehung

Ausschlaggebend ist ebenso die Arzt-Patienten-Beziehung. Studien zeigen, dass die Beziehung und Kommunikation von Ärzten und Patienten ein entscheidender Faktor bezüglich des Suizidrisikos ist. Eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation verringert das Suizidrisiko bei Patienten [27].

Suizidprophylaxe

Zugang zu Möglichkeiten, sich zu suizidieren: In einer Auswertung von 164 als relevant eingestuften Publikationen aus den Jahren von 2005 bis 2014 kristallisierten sich nachweisbar positive Interventionsstrategien zur Suizidprophylaxe heraus, die in unserem Kontext gleichzeitig einen Hinweis auf Risikofaktoren geben [28]. Dies betrifft vor allem den Zugang zu Betäubungs- und Schmerzmitteln, die Krebspatienten vor allem in einem fortgeschrittenen Stadium verschrieben werden. Der barrierefreie Zugang zu diesen Mitteln gilt nach der Analyse von Zalsman et al. als Risikofaktor bzw. als Möglichkeit der Prävention, wenn hier kein oder zumindest ein kontrollierter Zugang besteht. Das gleiche gilt für einen eingeschränkten Zugang zu Brücken, höher gelegenen Balkonen oder nicht gesicherten Fenstern in einer Klinik.

Hinweis: Die Aufsummierung der Prädiktoren allein, die mit einem erhöhten Suizidrisiko einhergehen, ist jedoch nicht ausreichend, um Suizidalität zu diagnostizieren. Vielmehr sollten die einzelnen Faktoren zur Abschätzung des Suizidrisikos dienen und letztendlich geschulte, erfahrene Onkologen, Psychoonkologen und Psychiater in die Beurteilung und Behandlung einbezogen werden.

Suizidale Patienten

Dem Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, begegnet man bei Krebspatienten häufig, ohne dass diese tatsächlich als suizidal einzustufen sind. Er kann als ein Versuch verstanden werden, verloren gegangene Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen: „Wenn alle Stricke reißen und es nicht mehr erträglich ist, kann ich meinem Leben selbst ein Ende setzen und nicht der Krebs.“ Die empathische Exploration ergibt dann in aller Regel, dass dieser Gedanke einen Ausweg aus der als kaum erträglich erlebten Situation bietet, aber „man“ das niemals tun würde.

Wodurch fällt uns eine Patientin/ein Patient auf und welche versteckten Botschaften gibt es? Viele Ängste und falsche Annahmen kursieren: etwa die Annahme, dass Patienten, die einen Suizid ankündigen, lediglich Aufmerksamkeit möchten und sich nicht suizidieren. Das Gegenteil ist der Fall: (Krebs-)Patienten kündigen in aller Regel, wenn auch nicht immer direkt an, dass sie Gedanken hegen, ihr Leben beenden zu wollen: 90–95 % derjenigen, die Suizidgedanken haben, liefern mehr oder weniger deutliche Hinweise auf ihr Vorhaben [12].

Die klinische Erfahrung zeigt, dass Patienten wie aus dem in der Einleitung zitierten Beispiel, die ein sehr ruhiges und angepasstes Verhalten zeigen oder die sehr auffällig und fordernd sind, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Besondere Achtsamkeit sollte man zudem bei einem „übersteigerten“ Wunsch nach Therapie, einem nicht enden wollenden Einholen von medizinischen Meinungen, einem ständigen Fordern von umfassenden, technischen Untersuchungen entwickeln. Auch Patienten, die vor Beginn der Erkrankung mehr oder weniger regelmäßig psychotrope Substanzen eingenommen haben und/oder psychische Vorerkrankungen aufweisen, sind gefährdet.

Die Erfahrung zeigt, dass viele Kollegen aus dem pflegerischen oder ärztlichen Bereich ein gutes Gespür für diese gefährdete Patientengruppe haben. Man könnte dies als ein „implizites“ Wissen beschreiben, das expliziert werden sollte. „Der Patient verhält sich irgendwie komisch, nicht im normalen, bekannten Rahmen. Was ist es genau, was mich hier beunruhigt?“ Ebenso können zum Beispiel der Wunsch nach Sterbehilfe oder eine Nahrungsverweigerung ein direktes Anzeichen für Suizidalität sein [14].

Wichtig: Suizidales Verhalten ist komplex

Suizidalität kann über die Zeit schwanken und Patienten, die zunächst nur den Wunsch nach Ruhe äußern, können plötzlich akut suizidal werden – zum Beispiel aufgrund der Nachricht eines Progresses oder einer Diagnose, die medizinisch gesehen nicht als lebenslimitierend eingestuft, aber von der Patientin/dem Patienten als katastrophal erlebt wird.

Die Praxis zeigt, dass aktives Ansprechen einer vermuteten Suizidalität von den meisten Patienten als erleichternd erlebt wird und nicht, wie häufig angenommen, „schlafende Hunde geweckt“ werden. Durch ein verständnisvolles Gespräch kann der subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit aktiv entgegengewirkt werden. Das Gespräch ermöglicht es, anscheinend „Unaussprechbares“ besprechbar und damit handhabbar zu machen. Aufgrund ambivalenter Verhaltensweisen von suizidalen Patienten ist es jedoch nicht immer möglich, Suizidalität zu erkennen. Sofern es einen Hinweis auf Suizidalität gibt, können weitere klärende Fragen folgen (Infobox 1).

In der Online-Befragung zeigte sich, dass im zurückliegenden Jahr 79 % der befragten Ärzte ein Gespräch über Suizidalität mit Patienten führten. Zudem wurde deutlich, dass 74 % der Ärzte ihre Patienten aktiv auf Suizidgedanken ansprachen. Dabei wurden folgende Situationen als Anlass genannt: eigener Verdacht und Eindruck des Arztes, vom Patienten geäußerte Todeswünsche, depressive Entwicklung, routinemäßig innerhalb der Anamnese, psychische Vorerkrankungen, auf Anregung Angehöriger, hohe psychosoziale und Symptombelastung, schlechte Prognose, weit fortgeschrittenes bzw. präterminales Krankheitsstadium.

Infobox 2: Hintergrund für Gespräche

  • Gefühle wertfrei betrachten.
  • Vermutung in jedem Fall ansprechen und besprechen, was bisher für den Patienten nicht an- und aussprechbar war.
  • Aktuelle Suizidgefahr einschätzen.
  • Abwehr des Patienten respektieren, Grenzen nicht überschreiten.
  • Erklären, warum man mit dem Patienten über seine Situation sprechen muss.
  • Der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung Raum geben.
  • Ergründen der individuellen Bedeutung der Suizidvorstellung.
  • Wichtig: Suizidgedanken sind noch keine Suizid-Absicht.
  • Lebenswille und der Sterbewunsch sollten angesprochen werden.
  • Eventuell an eine medikamentöse Therapie denken und besprechen. Ein Antidepressivum zu verschreiben, ohne es vorher besprochen zu haben, ist nicht hilfreich und vermindert nicht die Suizidgefahr; vielmehr lässt man den Patienten mit seiner Not dadurch allein.
  • Bei einem Non-Suizidvertrag besteht die Gefahr, dass sich der Therapeut in falscher Sicherheit wähnt. Man sollte sich nicht ausschließlich auf einen solchen Vertrag verlassen.
  • Primär sollte es darum gehen, wie das Leben des Menschen wieder lebenswerter werden kann, und nicht, wie man den Suizid verhindern kann.

nach Senf et al. [30]

Sind wir vorbereitet?

Das Erkennen suizidaler Patienten erfordert vor allem Wissen, Erfahrung, Feingefühl und eine spezifische Expertise. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern ärztliche Behandler auf diese Herausforderungen vorbereitet sind. Wie sicher schätzen sich Ärzte im Umgang mit suizidalen Patienten ein?

Die Online-Befragung gibt einen Hinweis: Sich im Gespräch über Suizidgedanken mit ihren Patienten unsicher zu fühlen, geben 28 % der Ärzte an. Sofern von Patienten im Gesprächsverlauf ein Suizidwunsch konkretisiert wird, geben 17 % der Ärzte an, sich überfordert zu fühlen. Den persönlichen Kenntnisstand zum Thema Suizidalität im Allgemeinen schätzt fast die Hälfte der Behandler (48 %) als ungenügend ein, bezüglich onkologischer Patienten sind es sogar 53 %. Erstaunlicherweise haben 52 % der Ärzte bereits eine psychoonkologische Fortbildung durchlaufen. Wissensdefizite scheinen die Identifikation und Diagnostik von Suizidalität zu erschweren. Unsicherheit und Mangel an Expertise können sich letztendlich auf eine angemessene Patientenversorgung negativ auswirken, da psychische Belastungen und eventuelle Suizidgedanken nicht angesprochen werden [29]. Hilfreiches für ein Gespräch ist in Infobox 2 dargestellt.

Neben den Prozessbedingungen (wie zum Beispiel die Expertise) ist das Handeln bei Suizidalität stark bestimmt durch die Strukturbedingungen der Einrichtung (zum Beispiel genügend Raum und Zeit).

Im Klinikalltag ist es besonders bedeutsam, wenn Abläufe und bestimmte Prozesse regeln, wie sich Behandler bei Verdacht auf Suizidalität verhalten können. Es sollte festgelegt sein, wer bei akuter Suizidalität wie informiert werden muss. Telefonnummern und Ansprechpartner sollten klar benannt und die Informationen an einem für alle Behandler zugänglichen Platz sichtbar gemacht sein.

Ebenso ist es für die eigene Absicherung wichtig, eine sorgfältige Dokumentation in der Patientenakte vorzunehmen. „Was wurde wem mit welchen Inhalten mitgeteilt, was wurde durch wen veranlasst?“ Eine Vernetzung mit anderen Fachdiensten bringt den Vorteil, schnell handlungsfähig zu sein. Im klinischen Kontext ist die Vernetzung mit der Psychiatrie und im Falle onkologischer Patienten der Psychoonkologie besonders entlastend. Damit wird zum einen Sicherheit gegeben und zugleich einer voreiligen und nicht hilfreichen Handlung entgegengewirkt. So kann ein übereiltes Hinzuziehen eines Psychiaters einen Patienten tiefer in die Krise katapultieren, da sich der Patient womöglich sehr gekränkt und entmündigt fühlt. Im ambulanten Kontext ist die Vernetzung mit niedergelassenen Psychiatern und dem Sozialpsychiatrischen Dienst besonders vorteilhaft und entlastend.

Belastung von Behandlern

Der Umgang mit Suizidalität ist herausfordernd. Der klinische Alltag zeigt, dass die Thematik bei ärztlichen Behandlern mit einer deutlichen Belastung einhergehen kann. Auch die Online-Befragung lässt erkennen, dass sich ein Großteil der onkologisch tätigen Ärzte durch die Thematik belastet fühlt. Spezifische Belastungsfaktoren im Umgang mit suizidalen Patienten wurden von insgesamt 69 % der Ärztinnen und Ärzte genannt (Mehrfachnennungen waren möglich). Besonders Unsicherheit und Angst kristallisierten sich als Belastungsfaktor heraus: Unsicherheit in der Einschätzung der aktuellen Situation und bezüglich der eigenen Fähigkeit im Umgang mit suizidalen Patienten sowie die Angst vor einem tatsächlichen Suizid wurden hauptsächlich genannt.

Zugleich zeichnen sich Belastungen durch Ressourcenknappheit (vor allem Personal- und Zeitmangel) sowie organisatorische und strukturelle Aspekte ab. Weiterhin spiegelt sich die eigene Haltung, zum Beispiel die Identifikation mit suizidalen Gedanken von Patienten, in den Belastungen wider. Als besonders beanspruchend werden auch die Verantwortung und der damit verbundene Handlungsdruck, Hoffnungs- und Hilflosigkeit sowie besondere Merkmale der Patienten (beispielsweise Abwehr, Widerstand) von den Ärzten geschildert.

Suizidprävention – ein erster Schritt

Die Krebsdiagnose in Verbindung mit einer langen Behandlung und Regeneration/Rehabilitation ist in ihrer Auswirkung für onkologische Patienten nicht zu unterschätzen. Noch Jahre nach der Krebsdiagnose berichten Patienten von der „Dauerangst“, dass die Krankheit zurückkehrt und man daran letztendlich verstirbt. Hilfreich ist hier die Frage, wie es Patienten vor Kontrolluntersuchungen geht, wie sie schlafen, was sie denken, etc. Ein entscheidender Beitrag zur Suizidprävention ist auch das Monitoring von psychosozialer Belastung. Die einfache Frage „Wie fühlen Sie sich momentan; auf einer Skala von 0 bis 10?“ – analog der Schmerzskala – kann helfen, Überlastungsspitzen zu identifizieren und den Patienten konkrete Hilfe zuzuführen.

Gezielte Fortbildungen und Trainings helfen dabei, kommunikative Kompetenzen zu erweitern und Patienten in dieser Situation „Halt“ zu bieten. Darüber hinaus erweisen sie sich als äußerst effektiv [31–33]. Die Studienauswertung von Zalsman et al. kam ebenfalls zu dem Schluss, dass speziell ausgebildete Mediziner wirksam zur Suizidprävention beitragen [28]. Spezifisches Wissen kann so erworben werden, Unsicherheiten und Belastungen werden reduziert und es besteht zugleich die Möglichkeit eines sich positiv auswirkenden kollegialen Austausches. Die Ergebnisse der Online-Studie lassen erkennen, dass auf Seiten der Ärzte ein expliziter Wunsch nach Fortbildungen zur Thematik besteht: 75 % der Ärzte wünschen sich Fortbildungen zum Thema Suizidalität. Dies obwohl ein Großteil der befragten Onkologen (62 %) bereits psychoonkologische Expertise besitzt.

Die Online-Befragung gibt ebenfalls einen Überblick über die Fortbildungsinhalte, welche besonders gewünscht werden. Vor allem Themen zum Umgang mit Suizidalität (59 %) und gesetzlichen Regelungen (51 %) wurden genannt. Weiterhin sollten Themen wie Sterbebegleitung (29 %), Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid, 33 %) und Tötung auf Verlangen (25 %), Akzeptanz gegenüber dem Sterben (35 %) und Therapien am Lebensende (30 %) integriert werden. Dabei sollten die Fortbildungen möglichst multiprofessionell konzipiert und durchgeführt werden. Das heißt sowohl Psychoonkologen (59 %) als auch Ärzte (48 %), Psychologen (22 %), Seelsorger (22 %) und Juristen (15 %) sollten miteinbezogen werden. Den Ergebnissen nach zu urteilen, sollte Suizidalität in den bestehenden (psychoonkologischen) Fortbildungen mehr Raum eingeräumt werden. Damit kann ein entscheidender Beitrag zur Suizidprävention geleistet werden.

Fazit

Relevant ist zunächst, dass Behandler die Thematik Suizidalität in der Onkologie bewusst als eine Situation wahrnehmen, die zwar paradox scheint, im klinischen Alltag aber auftritt. Ärztliche Behandler gehören für suizidgefährdete Menschen mit zu den wichtigsten Bezugspersonen. Sie sind der sichere Hafen, die potenziell lebensrettende Hand für Patienten. Obwohl Suizide, absolut gesehen, selten sind, weisen die Daten der Online-Befragung darauf hin, dass ärztliche Behandler nicht selten mit suizidalen Patienten konfrontiert sind.

Der Umgang mit Menschen in einer existenziellen Krisensituation, die immer auch suizidale Gedanken und Handlungen zur Folge haben kann, gehört mit zu den schwierigsten Aufgaben, ist herausfordernd und erfordert eine menschliche und zugleich auch professionelle Reaktion. Um Maßnahmen zur Suizidprävention zu etablieren, ist es also besonders wichtig, für diese eher paradox erscheinende Psychodynamik zu sensibilisieren. Dass sich Gedanken aufdrängen, die dazu führen, keinen Sinn mehr im Leben zu verspüren, sollte allen an der Behandlung Beteiligten bewusst sein und berücksichtigt werden.

Darüber hinaus erfordert das Erkennen suizidaler Krisen bei Patienten eine spezifische Expertise. Das Wissen über die Risikofaktoren spezifisch bei onkologischen Patienten ermöglicht, die Hochrisikogruppe, besonders in kritischen Phasen der Behandlung, zu identifizieren. Mehr Wissen, ergänzt um ein erweitertes kommunikatives Repertoire durch gezielte multiprofessionell gestaltete Fortbildungen und Kommunikationstrainings, bietet eine reelle Chance der Suizidprävention und für die eigene Psychohygiene.

Dr. rer. med. Psych. Bianca Senf

Dr. phil. Jens Fettel, Paula Maiwurm, (Wissenschaftliche Mitarbeiterin), beide Universitätsklinikum Frankfurt/M., UCT, Abteilung Psychoonkologie

Dr. med. Christiane Gog, M. Sc., Sana Klinikum Offenbach GmbH, Klinik für Palliativmedizin

PD Dr. med. Monika Keller, Heidelberg

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. Danksagung: An dieser Stelle sei der H.W. & J. Hector-Stiftung gedankt, sie hat die Finanzierung dieses Studienprojekts ermöglicht. Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/april-2020