3. Auflage 2020, Mabuseverlag Frankfurt/Main, 303 Seiten, ISBN 9783940529794, € 34.90
Der Autor Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg ist seit 2004 als Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg tätig. Auf seiner Spurensuche zur Geschichte der heutigen Palliativmedizin bezieht er sich auf Studien in Deutschland, den Niederlanden und England.
Als Quellen standen ihm Berichte von Geistlichen und Ärzten sowie Leichenpredigten und Jahresberichte von Institutionen, die seit 1500 mit der Begleitung unheilbar Kranker und Sterbender befasst waren, zur Verfügung. Ergänzend zitiert er Literaten. Betroffene kommen selten zu Wort, da diese sich nur selten in schriftlicher Form geäußert haben.
Stolberg zeichnet einen Weg von der Cura palliativa und der Euthanasia medicinalis des 16. Jahrhunderts bis heute. Er beschreibt, wie die zunächst ganz in der Hand der Kirche und von deren Werten bestimmte Sterbebegleitung mit Beginn der Industrialisierung zunehmend zu einer von Ärzten übernommenen medizinischen Sterbebegleitung überging.
Mit der Industrialisierung nahm die Zahl unheilbar Kranker (vor allem Krebs- und Tuberkulosekranker) ohne Versorgung, oftmals alleinstehend, dermaßen zu, dass neben den eher kurativ tätigen Vorläufern unserer heutigen Krankenhäuser (Hospitale) neue palliativ ausgerichtete Versorgungseinrichtungen geschaffen wurden. Der Autor hebt vor allem die „Unheilbarenhäuser“ hervor, die seit 1500 in Italien und in Frankreich vor allem zur Versorgung der Franzosenkrankheit (Syphilis) gegründet wurden. Später entstanden spezielle Institutionen zur Betreuung Krebs- und Tuberkulosekranker.
Die Begrifflichkeit „palliativ“ wurde laut Stolberg auch auf die Symptomlinderung chronisch Kranker verwendet. Der aus der Antike übernommene Begriff Euthanasia bezeichnet zunächst einen „sanften Tod“, bis er Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts als „Tötung auf Verlangen“ gefasst wurde sowie von den Nationalsozialsten auf die Vernichtung „angeblich unwerten Lebens“ ausgeweitet und für die Verbrechen der NS-Euthanasie missbraucht wurde.
Fragen der aktiven Sterbehilfe, der aktiven und passiven Lebensverkürzung Sterbender, Sinn und Maß der Aufklärung über eine anzunehmende Krankheitsprognose und Gebrauch von Narkotika wurden laut Stolberg im gesamten Zeitraum diskutiert: innerhalb der entstehenden Ärzteschaft, mit der Kirche, vor allem aber auch kontrovers zwischen Ärzten und Laien. Die beschriebene christliche Ärzteschaft hat sich mehrheitlich durch die Jahrhunderte hindurch gegen die Tötung auf Verlangen und lebensverkürzende medizinische Maßnahmen ausgesprochen.
Wünschenswert wären Querverweise auf die palliative Versorgung chronisch und unheilbarer Kranker in der Antike sowie im Perserreich gewesen, da die Betrachtung der ausgewählten, von der Kirche bestimmten Länder eine Einengung darstellt. Das Buch liefert vielfältige Anregungen aus der Historie für den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um die Entwicklung der Palliativmedizin und deren ethischen Herausforderungen.
Dr. med. Birgit Drexler-Gormann, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin