Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat am 26. Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt. Er hat festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst und die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.
Autonomie des Individuums
Das höchste Gericht betont die Autonomie des Individuums. „Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Dieses Urteil ist vor dem Hintergrund entstanden, dass mit technischen Möglichkeiten immer stärker in den Sterbeprozess eingegriffen wird und die Angst vor dem Sterben zugenommen hat, weil es nicht mehr nur von der Natur, sondern ganz wesentlich auch von anderen Menschen, ihren Entscheidungen und Handlungen mit Hilfe einer als unmenschlich erlebten Medizintechnik abhängt, ob und wie gestorben wird. Die Befürchtungen, am Lebensende von Maschinen abhängig zu sein, die das Leben künstlich und grausam verlängern, führt zu dem Wunsch, das Sterben genau festzulegen und seinen Ablauf selbst in der Hand zu halten. Durch eigene Hand zu sterben verbindet sich beim assistierten Suizid mit dem Wunsch, begleitet in vertrauter Umgebung zu sterben.
Ärztliche Musterberufsordnung verbietet bislang den ärztlich assistierten Suizid
Die ärztliche Musterberufsordnung der Bundesärztekammer, die in zehn der 17 Landesärztekammern im Berufsrecht umgesetzt worden ist, verbietet bisher den ärztlich assistierten Suizid. Es heißt dort in § 17: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Dieses Verbot war einer der Gründe für sogenannte Sterbehilfevereine das jetzt gefällte Urteil zu erwirken. Mehr noch, das Bundesverfassungsgericht formulierte die Einschätzung, dass solange Ärzte sich der Suizidassistenz verweigerten, ein tatsächlicher „Bedarf nach geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe“ bestehe.
Das Bundesverfassungsgericht lässt es dem Gesetzgeber offen, die Suizidhilfe zu regulieren, wenn er sich „an der Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen ausrichtet, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und selbst zu entfalten...“. Die Möglichkeiten der Regulierung „reichen von prozeduralen Sicherungsmaßnahmen, etwa gesetzlich festgeschriebenen Aufklärungs- und Wartepflichten, über Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sichern, bis zu Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe (…). Das Recht auf Selbsttötung verbietet es aber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen. Dennoch können je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden.“
Vorgeschlagen wird, das Berufsrecht der Ärzte und Apotheker zu ändern und Anpassungen im Betäubungsmittelrecht vorzunehmen, nach dem derzeit der Off-Label-Use (zum Beispiel zum Mittel des Suizids) bestimmter Betäubungsmittel strengen Kriterien unterworfen ist. Hier wird allerdings auch die Möglichkeit aufgezeigt, „die im Bereich des Arzneimittel- und des Betäubungsmittelrechts verankerten Elemente des Verbraucher- und Missbrauchsschutzes aufrecht zu erhalten und in ein Schutzkonzept Suizidhilfe einzubringen“.
Schwäche wird immer weniger toleriert
Der Eindruck des von einem autonomen Menschen Machbaren, und dazu gehört die Suizidhandlung, hat die Wahrnehmung der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten, letztlich die Begrenztheit des Lebens und damit die zentrale Bedeutung der Sterblichkeit als hinzunehmende Tatsache des Lebens verdrängt. Die Verwurzelung des Menschen in und seine Abhängigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen, denen er letztlich seine Existenz verdankt, seine Bindungen und seine Gebundenheit und auch das Leben in Beziehungen als Kennzeichen menschlichen Daseins treten in den Hintergrund. Die Leugnung der Bindungserfahrung durchdringt immer mehr Lebensbereiche. Schwäche und Hilfsbedürftigkeit sowie das Angewiesensein auf andere Menschen wird immer weniger toleriert.
Die Metapher „an Schläuchen zu hängen“, mit der beschrieben wird, dass Menschen von der Zufuhr von außen abhängig sind, wird zum stilisierten Horrorszenario. Das Skandalon des Menschen, äußerst hilflos geboren zu werden und oftmals bedürftig und in Abhängigkeit von anderen Menschen sterben zu müssen, scheint nicht mehr tolerabel. Diese Entwicklung wird als Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts erlebt.
Die Möglichkeit des Menschen, sich selbst das Leben zu nehmen, wird hingegen als Ausdruck von Freiheit und Würde interpretiert, auch wenn ein Suizident sich gegen das in jedem Lebewesen biologisch tief verankerte Prinzip der Lebenserhaltung richtet. Er tötet seinen Körper und damit die Grundlage jeder Entscheidungsmöglichkeit und schließt jede weitere Entscheidung endgültig aus. Ambivalenz, das heißt zwischen Lebenserhaltungswünschen und Todeswünschen zu stehen, wird als unzumutbar, ja als fragwürdig abgelehnt.
Tatsächlich hat sich der Einzelne in der westlichen Welt im Rahmen immer weiter fortschreitender Individualisierung in den vergangenen Jahrzehnten von vielen herkömmlichen gesellschaftlichen Zwängen und Normen, insbesondere von denen, die das familiäre Umfeld früher vorgab, befreien können. Die Überwindung von Abhängigkeit und die Entwicklung zur Selbstständigkeit gelten als allgemein gültige Entwicklungsziele eines jeden Individuums. Die Auflösung von Bindungen, die als einengend empfunden werden, wird als Befreiung gewertet. Diese Entwicklung kommt zum Ausdruck bei individuell zu entscheidenden Fragen der sexuellen Orientierung, der sexuellen Identität, der Berufswahl, der Religion, der Form zwischenmenschlichen Zusammenlebens – und eben auch bei der Gestaltung des unausweichlichen eigenen Todes.
Zwischenmenschliche Solidarität auf der Basis der für den Menschen charakteristischen Fähigkeit, sich in den anderen einfühlen zu können und dabei doch getrennt und verschieden vom Anderen zu sein, verliert als ethischer Wert zunehmend an Bedeutung. Das Angewiesensein auf den Anderen wird reflexhaft mit hilfloser Abhängigkeit assoziiert. Fundamentale Dimensionen menschlichen Daseins werden damit verleugnet, das menschliche Beziehungs- und Bindungsbedürfnis entwertet.
Der Mensch ist aber von Anfang an ein soziales Wesen und bleibt es lebenslang, eingebettet in Beziehungen, ohne die er nicht existenzfähig ist. So ist jede individuelle Freiheit von der sicherheitsspendenden Stütze anderer Subjekte abhängig. Jeder Suizid betrifft die Mitmenschen in ganz besonderer Weise. Dem Nahestehenden vermittelt er, dass es kein Zurück gibt. In den Hinterbliebenen werden oft Schuldgefühle ausgelöst. Suizide wirken in Familien häufig über Generationen.
Die Abhängigkeit des Einzelnen von seinen Mitmenschen wird entgegen dem ersten Augenschein aber tatsächlich immer größer. Abläufe technischer, sozialer, ökonomischer und finanzpolitischer Natur, die unser Leben bestimmen, sind für den Einzelnen heute immer weniger durchschaubar, immer weniger nachvollziehbar und immer weniger mitbestimmbar. Welche Informationen uns für unsere Entscheidungen zur Verfügung gestellt werden, bestimmen die Algorithmen von Google. Wir müssen den Menschen immer mehr vertrauen, die hinter den Funktionsabläufen stehen, ohne sie zu kennen oder kontrollieren zu können.
Die ständige mediale Verbindung zu jedem, jederzeit und überall stellt die unabhängige Selbstständigkeit des Einzelnen infrage. Die Fähigkeit, allein zu sein und Entscheidungen zu treffen, nimmt damit ab. Wie eine Verschiebung auf ein unbelebtes Medium kann dann die dauernde Verbundenheit mit Hilfe digitaler Netzwerke als Ausdruck eines menschlichen Bindungsbedürfnisses verstanden werden, das den idealisierten Autonomiebedürfnissen entgegenwirkt. Bei Krankheit und in Notlagen werden diese regressiven Wünsche wieder besonders evident. Kranke, die sich schwach fühlen, suchen tröstenden Schutz – meist in einer haltenden menschlichen Beziehung.
In der Begegnung mit Suizidenten kann man erleben, in welch großer seelischer Not und Verzweiflung sie sich befinden. Diese Zustände können oftmals gerade nicht als frei bezeichnet werden. Suizidalität ist der Ausdruck einer psychischen Krise, in der der Mensch über sich selbst, das eigene Leben und seine Perspektiven verzweifelt ist und seine Situation als ausweglos erlebt. Je bedrängender dieser Zustand ist, umso eingeengter ist sein Denken. Die Gefühle suizidaler Menschen sind bestimmt von Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Sinnlosigkeit, Scham, Schuld, Ärger und Wut.
Entscheidend für den letzten Schritt in den Suizid oder zum Suizidversuch vieler Menschen ist meist eine tiefe Verletzung des Selbstwertgefühls, die für die Betroffenen von besonders schwerwiegender Bedeutung war.
Jede Suizidentscheidung ist immer auch eine Entscheidung gegen diese Art zu leben. Eine therapeutische Aufgabe besteht darum nicht darin, den Suizidalen unter allen Umständen daran zu hindern, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, sondern ihm vielleicht zu helfen, „die Fundamentalkondition der Einsamkeit“, wie Jean Améry es nannte, zu ertragen, oder „die Fähigkeit allein zu sein“ zu erwerben und mit ihr in Beziehung zu anderen treten zu können, wie es der englische Psychoanalytiker Donald Winnicott formulierte. Die Assistenten eines Suizidenten bewerten, wenn sie tätig werden, dessen Leben als nicht mehr lebenswürdig; anderenfalls würden sie versuchen dazu beizutragen, es erträglich zu gestalten. Damit verlassen sie die Position des „Anderen“, stimmen dem Suizidalen nicht nur im Fühlen und Denken, sondern auch im Handeln zu und entziehen ihm damit die Beziehungserfahrung des zugewandten und doch nicht identischen Gegenübers. Sie signalisieren dem Suizidenten, dass sie auch ohne ihn weiterleben werden.
Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, sehnen sich nach Ruhe und Frieden. Ruhe und Frieden sind Erfahrungen aus dem Leben, mit denen die durch Abschied oder Kränkung ausgelösten Gefühle der Hilflosigkeit und Verzweiflung aufgehoben werden sollen. Oft möchten Sie auch anderen nicht mehr zur Last fallen und fühlen sich indirekt von Angehörigen zu diesem Schritt veranlasst.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle werden vollendete Suizide von psychisch erkrankten Menschen begangen. Werden ihnen mit dem Verweis auf die scheinbar freie Entscheidung eines autonomen Individuums mögliche Hilfen vorenthalten, ist das ein Zeichen falsch verstandener Selbstbestimmung und fehlender mitmenschlicher Solidarität. Die ganz einseitige Sicht und Betonung der Autonomie des Individuums, die das Bundesverfassungsgericht geleitet hat, verschleiert die existenzielle Abhängigkeit des Einzelnen von psychischen Bedürfnissen, von den Gesetzen der Natur und von denen des Marktes. Die generelle Freigabe der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung macht den Suizid zu einer käuflich zu erwerbenden Ware, auf die jeder ein Recht hat. Konsequent weitergedacht, müsste jedes autonome Individuum auch das Recht haben, die Amputation eines gesunden Beines erwerben zu können, und die Möglichkeit dazu müsste ihm eröffnet werden.
Es ist zu hoffen, dass die jetzt zu erwartende Diskussion der vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Regelungsmöglichkeiten, die sich auch auf die ärztliche Berufsordnung auswirken wird, einem Menschenbild folgen, das neben der Autonomie des Individuums das menschliche Miteinander als Grundlage seiner Existenz und die psychischen Notlagen der allermeisten Suizidenten würdigt.
Prof. Dr. med. Martin Teising ist Psychiater und Psychoanalytiker und praktiziert in Bad Hersfeld. Er war bis 2018 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin.
Prof. Dr. med. Reinhard Lindner lehrt „Soziale Therapie“ an der Universität Kassel, Leitung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland.
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