Bad Nauheimer Gespräch: "Suizidprävention und assistierter Suizid - geht das zusammen?"
"Suizidprävention und assistierter Suizid" lautete das Thema des 163. Bad Nauheimer Gesprächs, das am 22.10.2010 in den Räumen der Landesärztekammer Hessen stattfand. Unter der Moderation von Prof. Dr. med. Ursel Heudorf informierten und diskutierten vier Experten aus den Bereichen Recht, Palliativmedizin, Ethik und Philosophie über diese aktuelle und wichtige Thematik. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Verein Ambulante Ethikberatung in Hessen e.V., dem Förderverein für ärztliche Fortbildung in Hessen e.V. und der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen statt. Die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie hier.
Im Frühjahr 2020 hatte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts den im Jahr 2015 eingeführten Paragraph 217, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellte, als nicht mit dem Grundgesetz, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vereinbar, verhandelt und betont: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das […] schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen […und auch] hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen."
Prof. Volker Lipp, Ordinarius an der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen, Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer und bis 2024 Mitglied des Deutschen Ethikrats stellte Hintergründe, Details und Implikationen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und weiterer damit zusammenhängender rechtlicher Regelungen (u.a. zu Betäubungsmitteln) vor. Demnach sei aus grundrechtlichen Überlegungen die freiverantwortliche Suizidentscheidung zu respektieren, wobei der Suizidprävention als gemeinsame Aufgabe von Bürgern, Zivilgesellschaft und Staat auf allen Ebenen eine wichtige Bedeutung zukomme.
Dr. Thomas Sitte, Palliativmediziner und Autor zahlreicher Bücher und Publikationen zu Palliativmedizin und Demenz und Vorstandsvorsitzender der Deutschen PalliativStiftung (DPS) berichtete über seine Erfahrungen mit schwerst- und terminal erkrankten Menschen. Die meisten von Ihnen wollten nicht sterben, sondern nur nicht leiden. Insofern sprach er sich gegen eine organisierte beziehungsweise geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid aus und forderte eine bessere Palliativ-Versorgung. Dies sei gelebte Suizidprävention.
Prof. Kurt Schmidt, evangelischer Theologe und Medizinethiker, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus in Frankfurt und Vorsitzender des dortigen Ethik-Komitees referierte zu 10 ethischen Aspekten im Zusammenhang mit Suizid und Suizidprävention und zeigte zunächst die guten Erfolge der Suizidprävention, die zu einer Halbierung der der Suizide pro 100.000 seit 1980 geführt hatten. Der assistierte Suizid solle und dürfe nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden. Suizidgedanken von Menschen in Not dürften nicht moralisch verurteilt werden, sondern es sei eine offene Kommunikation über die Ängste Sorgen, Wünsche und Hoffnungen erforderlich – und oft auch schon der erste Weg aus den Suizidgedanken. Hierfür sei eine eigene Haltung zum Thema wichtig und notwendig.
Prof. Jean-Pierre Wils, Hochschullehrer, Philosoph, Medizinethiker und Theologe, Autor vieler Bücher, u.a. des im vergangenen Jahr erschienenen Titels SSich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?", legte u. a. in Hinblick auf die Historie (Griechen, Römer, Christentum, Humanismus, Liberalismus) und den Ländervergleich (z. B. Niederlande – Deutschland) dar, wie Suizid immer auch in (sich ändernden) gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfindet. Interessant und nachdenkenswert seine philosophische Betrachtung einer zunehmenden Inkongruenz zwischen der Biologie und der Biographie eines Menschen. Wir können – bei guter Gesundheit (Biologie) – biographisch in einer Situation sein, in der wir schon längst mit dem Leben abgeschlossen haben, weil wir unser Leben nicht mehr weiterführen können gemäß den selbstbestimmten euphorischen Kriterien der autonomen Entfaltung. Die Biographie ist dann gewissermaßen an ihr Ende gelangt und die Biologie hinkt hinterher, sie stolpert. Das führt zu Konflikten und ggf. zu Selbsttötungswünschen. Wichtig sind auch seine Ausführungen, den Menschen nicht nur als Wesen der Autonomie, der Selbstbestimmung, der Selbstverbesserung, der Selbstverfügung zu sehen, das sei nur eine "halbe Anthropologie", sondern auch als Wesen der Abhängigkeit, der Hingabe, der Demut.
Einigkeit bestand darin, dass Suizidgedanken und -wünsche enttabuisiert und die Suizidprävention gestärkt werden müssen.