Balintgruppen sind Arbeitsgruppen von etwa acht bis zwölf Ärztinnen und Ärzten, die sich unter der Leitung eines Psychotherapeuten regelmäßig treffen, um über Probleme von und mit Patienten (aus ihrer Praxis) zu sprechen. Die Gruppenarbeit fokussiert sich auf die Arzt-Patient-Beziehung und deren Beeinflussung durch Dynamiken von Seiten des Patienten und des Arztes mit dem Ziel einer verbesserten Behandlung. Balintgruppen haben inzwischen weltweite Verbreitung gefunden. Nun feiert die Deutsche Balintgesellschaft bereits ihr 50-jähriges Bestehen: Ein Grund, diese Erfolgsgeschichte einmal zu beleuchten.

Hintergründe

Ihren Namen haben die Balintgruppen vom ungarisch-britischen Arzt und Psychoanalytiker Michael Balint (1896 bis 1970). Ausgehend von seinen und den Forschungen seiner Frau Enid Balint in der Londoner Tavistock-Klinik, entwickelten die beiden ein Konzept der psychoanalytischen Gruppenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten zum besseren Verständnis psychosomatischer Zusammenhänge. Denn bei einem Teil der Patienten sind die Symptome nicht primär organischen Ursprungs, sondern entstehen aus Konflikten und Probleme im psychosozialen Bereich. Die Praktische Medizin mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse zu verbinden, war Balints Anliegen. Sowohl die Persönlichkeit des Patienten als auch die des Arztes bedingen deren Beziehung. Selbsterkenntnis und Verständnis für den Patienten wurden und werden so in der Gruppe erarbeitet.

Mit diesem Fokus war ein wesentlicher Veränderungsprozess eingeleitet. War die Medizin bis dahin patriarchal geprägt – der Arzt war der Wissende, der den Patienten untersuchte, beriet und erwartete, dass seine Anordnungen unbedingt befolgt wurden – so lief die Betrachtung der Beziehung in der Balintgruppe darauf hinaus, dass Arzt und Patient auf Augenhöhe in Kontakt stehen. „Die Grundfigur der Medizin ist ein Mensch in Not und ein Mensch als Helfer“ wie Victor von Weizsäcker (1886–1957) dies formulierte. Der Arzt ist nicht der „Halbgott in Weiß“, sondern der Mensch, der dem anderen zuhört und ihn empathisch begleitet.

Die Seminare boten Hausärzten Gelegenheit, miteinander und mit Balint Aspekte ihrer Arbeit mit Patienten zu diskutieren. Seit seinem Tod ist die Fortsetzung dieser Arbeit durch die Gründung von Balintgesellschaften gesichert.

Deutsche Balintgesellschaft

Am 26. Januar 1974 gründeten acht Ärzte (Hausärzte und Psychiater) in Barnstorf in Niedersachsen die Deutsche Balintgesellschaft e. V. (DBG). Sie folgten damit dem Beispiel von Kollegen in Frankreich (1967), England (1969), Italien (1971) und Belgien (1971), wo bereits nationale Gesellschaften gegründet worden waren. Anregung gab es aus dem 1957 in England erschienen und 1964 ins Deutsche übersetzten Buch „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“, in dem Balint seine Forschungsergebnisse zu der Arbeit mit einer Gruppe britischer Allgemeinärzte in London veröffentlichte.

Als im Februar 1975 die erste Wochenendtagung der Deutschen Balintgesellschaft in Hahnenklee in Niedersachsen angeboten wurde, fanden sich 100 Kollegen dort zusammen – ein deutliches Zeichen, dass der Bedarf nach dieser Art des Austausches bei den Ärzten vorhanden war. Die Anzahl der Mitglieder der Balintgesellschaft stieg rasch an. 1979 waren es 152, nach der Zusammenlegung der beiden Gesellschaften Ost und West konnte 1994 das 1000. Mitglied begrüßt werden.

1979 nahmen erstmals Studenten an der Balinttagung in Hahnenklee teil. An einigen Medizinischen Fakultäten wird Balintarbeit heute im Studium angeboten.

Bereits 1976 erfolgt die Aufnahme der Deutschen Balintgesellschaft in die „International Balint Federation“ (IBF). Seither haben ihre Mitglieder intensiv an der Unterstützung der Balintarbeit im internationalen Raum mitgewirkt. In 26 Ländern gibt es inzwischen nationale Balintgesellschaften, die in einer Internationalen Balint Föderation (IBF, gegründet 1975) vereint sind und alle zwei Jahre zu einem Kongress zusammen finden und die Grundidee weiter entwickeln.

Ein Internationaler Balint-Preis (Ascona-Preis) für Medizinstudenten, die ihre ersten Erfahrungen oder Begegnungen mit Patienten in einem Aufsatz reflektieren, wird alle zwei Jahre von der „Internationalen Stiftung Psychosomatik und Sozialmedizin“ auf den Kongressen der IBF verliehen .

In der ehemaligen DDR entwickelte sich Balintarbeit parallel seit den 1980er-Jahren als sogenannte Problemfallseminare. 1987 war ein erstes gesamtdeutsches Treffen in Erfurt zur Balintarbeit möglich. Am 27. September 1990 wurde die „Balintgesellschaft der DDR“ gegründet – schon mit dem vorausschauenden Gedanken, dass nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch ein Zusammenschluss der beiden Balintgesellschaften möglich werden sollte. Und so kam es im Februar 1991 zunächst zur Zusammenarbeit der beiden Vorstände in Hahnenklee. Im Februar 1992 wurde dann ein gesamtdeutscher Vorstand gewählt. Zuvor war die DBG eine rein ärztliche Organisation. Mit dem Zusammenschluss war sie auch für Psychologen geöffnet, die in der DDR schon vorher beitreten konnten. Dazu wurde ein Curriculum zur Ausbildung für Psychologen als Balintgruppenleiter entwickelt.

Dies ist heute Standard. Inzwischen gibt es etwa 50 anerkannte psychologische Balintgruppenleiter von insgesamt knapp 700 von der Deutschen Balintgesellschaft ausgebildeten und bei den Ärztekammern akkreditierten Balintgruppenleitern.

Offen für verschiedene Professionen

War Michael Balint anfangs skeptisch, ob diese Art der Gruppenreflexion auch für Psychiater geeignet sei – er sah diese Berufsgruppe zunächst nur in der Gruppenleiterposition – so zeigte sich alsbald ein großes Interesse. Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten entdeckten dieses Verfahren als sehr hilfreich für sich, sowohl bei der Bewältigung von Problemen mit ihren Patienten, als auch zur Diagnosestellung. Balintarbeit ist heute in der Facharztweiterbildung verpflichtend.

Auch weitere Fachärzte machen sich die Balintgruppen zu nutze. Zahlenmäßig sind mehr und mehr Patienten mit psychosomatischen Reaktionen in vielen Fachbereichen der Medizin anzutreffen. Zunehmend sind heute Zahnmediziner an der Balintarbeit interessiert, haben doch auch sie mit den verschiedensten psychischen Problemen bei ihren Patienten zu tun.

Ein wichtiger Schritt war die Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung mit Integration der Balintarbeit in die Weiterbildungsordnung für verschiedene Facharztgruppen 1987.

Verschiebung des Fokus

Eine gewisse Verschiebung des Fokus hat sich in den 50 Jahren Balintarbeit ergeben. War das Anliegen von Balint zunächst vor allem die „Psychologisierung des Arztens“, der Erkenntnisgewinn des Arztes bezüglich der möglichen psychosomatischen Hintergründe eines Symptoms sowie seiner Wirkung als Person auf Diagnose und Therapie, so ist heute die Entlastung der Gruppenteilnehmer ebenso ein Ziel der Arbeit.

„Psychohygiene“ ist ein wichtiger Teil der Balintarbeit geworden. Ärzte stehen heute unter großem Arbeits- und Erfolgsdruck. Die Bürokratie nimmt viel Raum ein. Sie sind Zweifeln bis Anfeindungen ausgesetzt. „Habe ich alles richtig gemacht?“, ist eine drängende Frage, die bei der Komplexität der Aufgabe nicht immer leicht zu beantworten ist. Es reicht nicht, das Beste gegeben zu haben – „a good enough doctor“ zu sein – es droht die Anklage, der Nachweis eines Versäumnisses, eines Versagens. Bei hoher Arbeitsbelastung wächst die Angst vor Unzulänglichkeiten. In der Balintgruppe kann hier Entlastung und Unterstützung geboten werden.

Eine weitere Veränderung auch für die Balintgruppenarbeit ergibt sich daraus, dass wir es in der Praxis heute in Deutschland – so wie auch in vielen anderen Ländern der Welt – mit einer Durchmischung der Kulturen zu tun haben. Sowohl auf Seiten der Kollegen als auch bei den Patienten finden wir heute in unserem Land Menschen aus vielen unterschiedlichen Herkunftsländern mit unterschiedlichen Traditionen, Religionen, Philosophien, Lebenseinstellungen. Das ist hoch spannend und interessant, erfordert aber in der Beziehungsgestaltung neue Kenntnisse und Fähigkeiten des Zuhörens und Verstehens. Auch Balintgruppen sind heute vielfach multikulturell. Sehr hilfreich ist, wenn ein Patient aus einem Land vorgestellt wird, aus dem auch eines der Gruppenmitglieder kommt. Er/Sie kann uns helfen, die Hintergründe zu verstehen, die besonderen Reaktionen auf Angebote des Arztes zu akzeptieren, vielleicht Kompromisse zu finden.

Die Balintarbeit hat sich außerdem durch die Hinzunahme neuer Techniken aus der psychotherapeutischen und systemischen Arbeit verändert. So können Rollenspiel, Imagination, Skulpturarbeit, Psychodrama und Musik fruchtbar in die analytische Arbeit eingefügt werden. Das macht die Arbeit lebendig, oft leichter zugänglich und führt zu intensivem Erleben.

Seit dem Jahr 2000 erscheint darüber hinaus im Thieme-Verlag das Balint-Journal, das sowohl Berichte aus den verschiedenen Bereichen der Balintarbeit als auch Originalarbeiten und Ergebnisse aus der Internationalen Forschung zur Balintarbeit vermittelt und dieses Jahr sogar erstmalig einen Impact Faktor (gibt an, wie oft Artikel einer Zeitschrift zitiert werden) verzeichnen konnte.

Dr. med. Heide Otten1, Berlin, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Geschäftsführerin der Deutschen Balintgesellschaft (1992–2013), Präsidentin der International Balint Federation (2001–2007), Stiftungsratsmitglied der InternationalenStiftung Psychosomatik und Sozialmedizin

Literatur: Otten, Heide; Professionelle Beziehungen – Theorie und Praxis der Balintgruppenarbeit, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012